Ulrich Seidls Film »Sparta« im Kino: Spuren der Gewalt

Ulrich Seidls umstrittener und frühzeitig denunzierter Film »Sparta« kommt in die deutschen Kinos

Ewald (Georg Friedrich) lädt Jungen aus der Umgebung ein, von ihm in seinem Sparta Judo zu lernen. Eine unbeschwerte Freizeitbeschäftigung?
Ewald (Georg Friedrich) lädt Jungen aus der Umgebung ein, von ihm in seinem Sparta Judo zu lernen. Eine unbeschwerte Freizeitbeschäftigung?

Ewald sitzt in seinem Auto, irgendwo in Rumänien. Die Kamera fängt das Wort »Jeep« auf dem Lenkrad ein. Hier fühlt er, der uns zunächst als ein schwächlicher, kaum hörbarer Mann gezeigt wird, sich offenbar geschützt. In mehreren Szenen begleiten wir Ewald, wie er aus der Sicherheit seines Fahrzeugs heraus Kinder beobachtet, den Kontakt zu ihnen sucht. Einmal flieht er nach einer kurzen Annäherung zurück in das Auto und weint. Stärke und Schwäche ziehen sich als Motive durch den Film. Es geht um Gewalt. Dass die eigene Schwäche nicht davor schützt, gewaltsam, vielleicht sogar Täter zu werden, ist eine der Erkenntnisse aus Ulrich Seidls »Sparta«. Das Spüren der eigenen Lust ist der Hauptfigur zugleich Qual.

Gespielt wird Ewald von Georg Friedrich, wohl einem der interessantesten Schauspieler österreichischer Herkunft, die man derzeit im Kino erleben darf. So aber hat man Friedrich gewiss noch nicht gesehen. Feinfühlig erspielt er sich seine Rolle; nichts, was er vor der Kamera tut, wirkt in irgendeiner Weise zufällig. Die Plastizität in der Darstellung, gepaart mit dem Mut zu eindrucksvollen Bildkompositionen, lässt den Film zu einem Ereignis ohne jedwede Längen werden.

Eine flüchtige Bekanntschaft mit der abgründigen Figur Ewald konnten bereits diejenigen machen, die »Rimini«, Seidls letzten Film, gesehen haben. Ursprünglich als ein einziger Film mit dem Titel »Böse Spiele« geplant, sind zwei Streifen entstanden, die jeweils die Geschichte eines der beiden Brüder erzählen. »Rimini« dreht sich um Richie Bravo, einen gewesenen Schlagerstar, der sich zwischen sexuellen Diensten und musikalischer Prostitution als Alleinunterhalter an der hier ganz und gar nicht idyllisch scheinenden Adriaküste durchschlägt. »Sparta« ist in mehrerlei Hinsicht das Gegenstück dazu.

Einmal kommen Ewald und Richie in »Rimini« zusammen. Beide besuchen ihren Vater, einen an Demenz erkrankten Nazi, in einem Pflegeheim in der österreichischen Heimat. Einige Szenen, die den sterbenden Alten zwischen kläglicher Existenz und einem letzten gescheiterten Aufbäumen inklusive faschistischem Liedgut und »Deutschem Gruß« zeigen, kommen als Dubletten in beiden Filmen vor und bilden für die Geschichte des einen wie des anderen Bruders Spuren einer Erklärung, die sich aber nicht im Vulgärpsychologischen erschöpfen. Es ist einer der großen Vorzüge der Seidl’schen Filmdramaturgie, jede Figur mehrdimensional auszugestalten, jede Sequenz als Teil größerer Zusammenhänge kenntlich zu machen, ohne sich verpflichtet zu fühlen, jedem einmal aufgenommenen Erzählfaden erneut nachzugehen.

In »Sparta« folgen wir Ewald, der seinem Zuhause entlaufen ist wie sein Bruder, aber in Rumänien, nicht in Italien, neue Anknüpfung sucht. Seine Beziehung zu einer rumänischen Frau scheitert. Ewald bleibt ein Suchender. Eine verlassene Schule wird von ihm notdürftig umgestaltet, bald zu einer Festung gemacht. Ein Schild mit der Aufschrift »Sparta« bringt Ewald außen an. Wie zuvor das Auto ist es nun dieser Ort, an dem er ein Selbstbewusstsein entwickelt, das in starkem Kontrast zu seiner Verschüchterung im Umgang mit anderen Erwachsenen steht. Die Außenwelt versucht er fern von sich zu halten.

Ewald lädt Jungen aus der Umgebung ein, von ihm in seinem Sparta Judo zu lernen. Klandestine Treffen, verborgen vor den Augen der Eltern, und sportliche Betätigung erwecken den Eindruck mal mehr, mal weniger unbeschwerter Freizeitbeschäftigung. Dann reißen die Grenzen ein. Zunächst in ihrem Kontext natürlich wirkende Berührungen häufen sich, Ewald lässt die Kinder halbnackt posieren und fotografiert sie, später duschen sie auch gemeinsam. Das hier gezeigte Tabu aber ist das Begehren, das sich im Inneren abspielt.

Die Unsicherheit Ewalds schlägt nicht einfach um. Sein missbräuchliches Handeln erscheint zögerlich und zunächst vorsichtig, nicht brutal. Nach einigen Tagen wird das Misstrauen der Dorfbevölkerung geweckt. Die schützende Hand der Väter ist auch eine zupackende, mitunter zuschlagende. Die Gewalterfahrungen, die die Kinder hier durchlaufen, sind vielfältig und stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Die Brutalität, mit der die Väter agieren, lässt die Frage nach Ewalds eigener Kindheit als Sohn eines Nazis aufscheinen, die der Film nicht nacherzählt.

Sollte man den Inhalt von »Sparta«, dem rudimentären Erzählstil Seidls zum Trotz, zusammenfassen, so könnte man mit einigem Recht behaupten, es handelte sich um eine filmische Umsetzung von Klaus Theweleits »Männerfantasien«. Keinesfalls hat man es hier mit einem Film zu tun, der Theorie auf die Leinwand bringen will. Seidl ist kein Konzeptionalist, sondern ein lebensnaher Filmer, der die menschlichen Abgründe nicht scheut. Und doch ist »Sparta« eine künstlerische Bearbeitung überkommener Männerbilder, der Überhöhung soldatischer Stärke, der über Generationen fortgesetzten Gewalt und deren Verbindung zum Sexuellen. Dabei erhebt Seidl keine Anklage, sondern bringt die Zuschauer schonungslos in Konfrontation mit dem Gegenstand seines Films.

Anklage gegen den Regisseur wurde medial hingegen frühzeitig erhoben. Eine Woche vor der geplanten und dann kurzfristig abgesagten Weltpremiere im Rahmen des Toronto International Film Festivals stellten vier Journalisten nach einer Recherchezeit von sechs Monaten im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« die Drehpraxis von Seidl selbst als missbräuchlich dar. In Unkenntnis des Films wurde eine Reihe von Vorwürfen formuliert, die sich keineswegs überprüfen lassen und die mit suggestiven Formulierungen versehen wurden. In einer von dem Filmemacher verfassten Stellungnahme werden sie indes relativiert und erstmals in einen Kontext gestellt. Es dauerte dennoch nicht lange, bis andere Medien sich aufschwangen, um auch frühere Werke Seidls nachträglich moralisch und künstlerisch infrage zu stellen.

Das filmische Motiv der Pädophilie lässt erahnen, um welchen Drahtseilakt es sich jedenfalls bei den Dreharbeiten mit Laienkinderdarstellern gehandelt haben muss. Eine abschließende Beurteilung der genauen Umstände wird nicht journalistisch vorzunehmen sein. Der Film selbst allerdings ist zweifelsohne ein überaus sensibel angelegtes Psychogramm, ein herausforderndes Stück Filmkunst und eine aus dem insgesamt beeindruckenden Schaffen von Ulrich Seidl noch mal herausragende Arbeit.

»Sparta«: Österreich/Deutschland/Frankreich 2022. Regie: Ulrich Seidl, Drehbuch: Ulrich Seidl, Veronika Franz. Mit: Georg Friedrich, Florentina Elena Pop, Hans-Michael Rehberg, Marius Ignat, Octavian-Nicolae Cocis. 101 Min. Start: 18. Mai.

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